Das Labor ist mir heilig - H. Jahrens "Blattgeflüster"
Die amerikanische Professorin Hope Jahren scheint für den Beruf der Forscherin geboren zu sein. Als Kind wie als Erwachsene ging sie mit einem wachen Blick durchs Leben und fühlte sich dort am wohlsten, wo sie Geheimnisse der Natur entdecken und erkunden konnte. Sie spielte im Labor ihres Vaters und hat diese leichte Herangehensweise an Wissenschaft auch Jahrzehnte später nicht verlernt. In ihrem Buch beschreibt sie ihre akademische Laufbahn und Liebe für Natur und Erdgeschichte [1]. Ihre Leidenschaft für Naturforschung trieb sie immer weiter voran, unabhängig von den Steinen die ihr eine Männerdominierte Forschungswelt in den Weg legte. Ihre vielzitierten wissenschaftlichen Aufsätze und Professuren in Hawaii und Oslo gaben ihr am Ende Recht, obwohl es zu Anfang meist nicht nach solchen Erfolgen aussah. Diesen Lebenslauf illustriert sie mit allerhand unterhaltsamen Anekdoten und wirkt dabei manchmal wie Bridget Jones im Labormantel. Wie es sich für amerikanische Geschichten gehört, ist auch in ihrem Buch allerhand Pathos und Drama zu finden, doch durch ihren leichtfüssigen Schreibstil kann man darüber leicht hinweglesen. Als Forscherin war ich überrascht über so viel Gefühl in Verbindung mit wissenschaftlichen Fakten, denn diese Mischung ist in unserem Metier selten zu finden. In Amerika konnte sie viele Menschen mit ihrem Buch begeistern, sodass es nach dem Erscheinen 2016 monatelang in den amerikanischen Bestseller-Listen zu finden war und mehrfach ausgezeichnet wurde [2]. Die Autoren der New York Times fühlten sich so beflügelt, dass sie sogar einen zweiten Artikel zu ihrem Buch schrieben und zum Pflanzen von Bäumen aufriefen [3, 4]. Noch drei Jahre später empfahl Barack Obama „Lab Girl“ in seiner Sommer-Leseliste und fand es „terrific“ [5]. Hierzulande dagegen wurde der deutschen Ausgabe „Blattgeflüster“ nur wenig Aufmerksamkeit zuteil, dabei ist ihr Buch besonders für Naturliebhaber sehr empfehlenswert.
Hope Jahren macht ihren Job nicht um Geld zu verdienen, er ist vielmehr Teil ihrer Persönlichkeit. Wer sie ist, mit wem sie arbeitet, was sie erlebt und an was sie forscht vermischen sich in ihrem Buch zu einem dichten Wald aus witzigen und abenteuerlichen Geschichten, einfallsreichen Experimenten und liebevollen Erläuterungen zu Naturphänomenen. Ihre Leidenschaft für die Wissenschaft zieht den Leser an und macht es zeitweise unmöglich, das Buch wieder aus der Hand zu legen. Dabei beschreibt sie ereignisreiche Autofahrten quer durch die USA mit genauso viel Hingabe wie die Lebenszyklen von Samen und Bäumen. Durch diese farbenfrohen Schilderungen sieht auch der letzte Naturmuffel die Böden und Bäume um sich herum auf einmal mit völlig neuen Augen.
Die Forscherin erscheint wie eine Detektivin, die Schritt für Schritt die Geheimnisse der Natur aufdeckt und nebenbei den Leser wissen lässt, wie mühsam, erfinderisch und ekstatisch die Forschungsarbeit hinter diesen Erkenntnissen sein kann. Manche der unglücklicheren Laborerlebnisse mit ihren Studenten und Mitarbeitern wirken etwas unangenehm intim und ich fragte mich ab und zu, ob sie eigentlich alle der Veröffentlichung zugestimmt haben. Sie testet ihre Mitarbeiter, rügt sie, geht mit ihnen auf Reisen die alles andere als verantwortungsvoll wirken (aber umso unterhaltsamer zu lesen sind) und schleppt ihren engsten Freund und Techniker quer durchs Land, obwohl sie ihn für seine Arbeit nicht einmal bezahlen kann. Das ergibt für den Leser ein dramatisch realistisches Bild von den Strapazen einer Forscherkarriere in den USA, liess mich aber manchmal auch am Charakter der Autorin zweifeln. Das ist das Besondere an ihrer Schreibweise: sie ist ehrlich und erlaubt einen so tiefen Blick in ihre Arbeit und Persönlichkeit, dass man sich ihr trotz aller Zweifel stark verbunden fühlt. Humorvoll und aufrichtig begleitet der Leser Hope Jahren durch Krisen von Sexismus, Krankheit und Finanzlöchern sowie akademische Höhenflüge und Karrieresprünge, sodass man sich schliesslich sehnlichst ein glückliches Ende für sie wünscht.
Hope Jahren fordert zur Forschung in alle Richtungen auf: sich selbst erkunden, die Menschen um sich herum verstehen und so die Kraft gewinnen, selbst entscheiden zu können wem man Gehört schenkt und wem nicht. Und schliesslich nie aufhören die Wunder der Welt zu sehen, sich von der Natur beflügeln lassen und immer weiter nach Antworten suchen. Ich empfand diesen Perspektivwechsel als erfrischend und inspirierend, ihre Leidenschaft und Durchhaltevermögen schienen mich die Seiten geradezu anzuspringen.
Als Fazit lässt sich festhalten, dass Hope Jahren in ihrem Buch den Balanceakt zwischen packender, unterhaltsamer Erzählung und sachlicher Vermittlung von Wissenschaft beherrscht hat. Selten bekommt man einen so guten Blick hinter die verschlossenen Türen der Hochschulwelt, was in Zeiten ständiger Zweifel an Forschungsergebnissen zugunsten politischer Agenden von besonderer Wichtigkeit ist. Wer wissen möchte, wo Wissenschaft entsteht und wie eine Hochschulkarriere für Frauen aussehen kann, ist mit Hope Jahrens Buch gut beraten. Wer sich der Natur nah fühlt, wird in Hope Jahren gleich eine Freundin finden und wer mit der Pflanzenwelt eher wenig anfagen kann, wird von ihren Geschichten einfach mitgerissen.
Quellen und Verweise
[1] Englische Originalausgabe: Hope Jahren, Lab Girl – a story of trees science and love. Knopf 2016.
Deutsche Übersetzung: Blattgeflüster - Die wunderbare Welt der Pflanzen. Aus dem Leben einer leidenschaftlichen Forscherin. Ludwig Verlag 2016.
[2] Penguin Verlag, Bestselling books of all time: Lab Girl by Hope Jahren
[3] New York Times, 28. März 2016: Review: ‘Lab Girl,’ Hope Jahren’s Road Map to the Secret Life of Plants
[4] New York Times, 8. April 2016: Hope Jahrens Lab Girl
[5] Facebook Post von Barack Obama, 14. August 2019: Reading List